Sie lieben den Räbechilbi-Umzug, ohne ihn selber zu sehen
Räben höhlen, Kerzen anzünden und mit Muskelkraft den Wagen schieben: Unterwegs mit dem Turnverein Richterswil an der Räbechilbi.
Mit vereinten Kräften bugsieren die Männer und Frauen des Turnvereins Richterswil ihren Umzugswagen die Steigung beim Restaurant Raben hinauf. Während die einen vorne an Seilen ziehen, stossen andere das Gefährt vornübergebeugt. Viel lässt sich aus dieser Perspektive nicht sehen vom Umzug. «Ich mache lieber selber mit, als zuzuschauen», sagt Vereinsmitglied Jonas Uhl. Er spricht wohl für all seine Kameraden, die ziehen und stossen, die Nasen gefüllt vom Duft des Räben-Wachs-Gemischs. Man ist sich einig, es riecht wunderbar.
Die Sujets der anderen Vereine und Schulklassen bestaunt Turnvereinsmitglied Dominique Läderach eine Stunde zuvor auf dem Parkplatz beim Bahnhof. Hier bereiten die Umzugsteilnehmer ihre Wagen auf den grossen Moment vor. Läderach hat ein fasziniertes Lächeln im Gesicht, er sei einmal mehr beeindruckt davon, was sich die Vereine und Schulen haben einfallen lassen. Unmittelbar vor dem Umzug gilt es, die Räben erleuchten zu lassen. Dazu füllen die Turner backformartige Behälter – es sind abgetrennte Böden von Plastikkesseln – mit Kerzen.
Diese werden angezündet und anschliessend denjenigen Mitgliedern gereicht, die auf Leitern und Gerüsten stehend die Räben füllen. «Hat man erst einmal ein wenig Wachs an den Fingern, spürt man die Hitze der Flamme irgendwann nicht mehr», sagt Martin Felger lachend.
Die Arbeiten auf dem Parkplatz sind die Krönung eines langen Prozesses. Der beginne jeweils schon Monate vor der Räbechilbi, im Sommer, erklärt Jonas Uhl. Ein vierköpfiges Organisationskomitee, dem der gelernte Schreiner angehört, trifft sich dann zur Besprechung des Sujets. Dieses Jahr war die Entscheidung, eine Weinpresse als Motiv zu bauen, eine einfache. Denn das Sujet war schon einmal im Einsatz, an der Räbechilbi 1999. «Die Presse war im Dachstock des Schulhauses Töss verstaut, den wir räumen mussten», sagt Uhl. Also habe man entschieden, das Sujet neu aufzubauen und ein zweites Mal einzusetzen.
Ein weiterer arbeitsintensiver Teil der Vorbereitungen ist das Aushöhlen der Räben. Dieses findet jeweils am Freitagabend vor der Räbechilbi statt. Zwischen 50 und 60 Mitglieder hätten mitgeholfen, sagt Vereinsmitglied Fritz Künzler. Für die Arbeiten stellt er die Halle seines Handels- und Transportunternehmens an der Dorfbachstrasse zur Verfügung. Ehefrau Käthy Künzler sorgt derweil dafür, dass auch abseits der Umzugsstrecke Räbechilbi-Stimmung herrscht. Sie hat ihr Wohnhaus mit unzähligen Räben geschmückt.
Der zweite Knall löst den Umzugsbeginn aus, doch der Turnverein muss sich nicht beeilen. Er startet als drittletztes Sujet und rund eine Dreiviertelstunde nach den Kirchgängerinnen. Die Kerzen brennen dennoch bereits – und sie werden dies noch mindestens vier Stunden lang tun. Dann geht es los. Bereits auf der Seestrasse stehen die Zuschauer in mehreren Reihen am Strassenrand. Das sei ein Zeichen für sehr viele Besucher, meinen die Turner. Immer wieder verlässt einer den Tross, um mit einem Bekannten in der Menge ein Wort zu wechseln.
An der Dorfstrasse ist es besonders eng, die Zuschauer nur eine Armlänge entfernt. Wo genau bei dieser Presse denn der Wein herauskomme, wollen einige wissen. «Der ist noch nicht reif», tönt es zurück. Einen reifen Tropfen gönnt man sich aber dennoch, wenn es gerade einmal nicht anzuschieben gilt, sondern der Wagen in der Balance zwischen Bremswirkung und Schwerkraft selber rollt.
Die Stunde, die der Umzug dauert, verstreicht rasch. An der Kreuzung Dorfstrasse/Dorfbachstrasse lässt man den Wagen noch einmal stehen, bevor es zurück in die Einstellhalle geht, und isst gemeinsam Wienerli mit Brot. Der Turnverein erntet Applaus und Gratulationen für sein Sujet. Er habe dabei fast ein schlechtes Gewissen, sagt Dominique Läderach. «Denn die Räbechilbi ist das Verdienst des ganzen Dorfes.»
Zürichseezeitung; Erstellt: 10.11.2019, 13:54 Uhr
Text Colin Bätschmann
Fotos André Springer
Video TVR